Ein Hut für Babuschka
Text: Annika Fischer, Fotos: Jakob Studnar/Kindernothilfe
Bukarest. Die Babuschka ist immer noch da. Und sie wird bleiben. Oma Ludmilla liebt die Kinder im Familienzentrum „Casa Iuda“ in Bukarest, und die Kinder lieben sie. Eigentlich sollte die 76-Jährige hier nicht wohnen dürfen, in diesem Haus, das sich um Jugendliche am Rande der Gesellschaft kümmert und um ukrainische Flüchtlingskinder, nicht um alte Frauen wie sie. Aber sie wollen nicht mehr ohne die Babuschka, sie ist das Herz dieses Hauses geworden. Und wo soll die betagte Ukrainerin auch hin?
Im Kinderschutzzentrum der Hilfsorganisationen Concordia und Kindernothilfe üben die rumänischen Jugendlichen in diesen Tagen ukrainische Weihnachtslieder. Sie wollen die Babuschka zum Fest überraschen. Denn die lebt hier jetzt schon mehr als ein Jahr und ist doch alleine. Sohn, Enkel, Urenkel sind weit weg, in der Ukraine oder in Kanada, nicht einmal richtig telefonieren können sie: Ludmilla hört schlecht. Sie zeigt auf ihr Ohr, verdrückt eine Träne. Sie möchte zurück, vielleicht. Aber „da ist Krieg, da ist Krieg“.
„Es ist ganz schrecklich zu Hause, Gefechte, Bomben, Sirenen“
Gestern erst hat die 76-Jährige davon geträumt, nach Hause zu gehen. Sie kann manchmal das Heimweh nicht aushalten nach ihrer Wohnung in der zweiten Etage, Sonnenseite. Sie liegt in der Mitte des Gebäudes, deshalb hatte Ludmilla es schön warm. Und dann ihre Pflanzen! Deshalb fehlt ihr der kleine Garten sogar noch mehr, „ich liebe die Erde so sehr“. Aber sie weiß ja, „es ist ganz schrecklich zu Hause ,Gefechte, Bomben, Sirenen, ach“ – sie weiß es doch auch nicht. „Gott gib mir die Gesundheit, das alles jemals wiederzusehen.“ Ludmilla schlägt ein Kreuz vor der Brust.
Auch weil sie so dankbar ist. Viermal schon hatte sie versucht auszuwandern, „aber der Herrgott hat es nicht zugelassen“. Sie wollte nach Israel, gemeinsam mit ihrem Mann, der Jude war. Aber dann starb der Mann, es kam der Krieg, und Ludmilla packte eine Tasche, um mit Freunden aus der jüdischen Gemeinde einen neuen Anlauf zu wagen. Sie kam bis Bukarest, 1300 Kilometer aus Sumy an der russischen Grenze. Von hier aus zogen die Freunde weiter, nur Ludmilla bekam aus Israel kein Visum; sie ist ja Christin und nur die Witwe eines Juden. Und jetzt erzählen die anderen aus dem Nahen Osten, dass sie auch dort in den Bunker müssen. Wie in der Ukraine.
Dank empfindet die 76-Jährige auch für ihr Bett in diesem Haus. Neulich hat sie sogar neue Schuhe bekommen, sie hatte nur ihre ausgetretenen Schlappen. Sie kriegt dreimal täglich etwas zu essen, „mehr brauche ich nicht“. Aber die Casa Iuda braucht sie: Ludmilla putzt hier, gießt die Blumen da, malt und bastelt mit den Kindern, den rumänischen und den ukrainischen. Alle nennen sie „Babuschka“, das russische Wort für Oma, und Ludmilla hört das gern. „Meine Enkel sind ja nicht da, sonst würde ich das nie hören.“ Sie nimmt die Kinder in den Arm, häufig auch ihre Mütter. Und manchmal weint sie mit ihnen.
Jetzt aber schlingt sie die Arme um ihren eigenen schmaler gewordenen Körper, zeigt, wie sie friert. Aber nicht ihr ist kalt, sondern den Pflanzen: Die Blumentöpfe müssen ins Haus, so hat sie Stefania das gezeigt und dann selbst geholfen, die Pötte von draußen ins Wärmere zu schleppen. Stefania Diaconu ist die Chefin in diesem Haus, sie sagt: „So lange, wie wir hier sind, bleibst du auch. Und wenn wir gehen, nehme ich dich mit nach Hause.“
Stefania würde sie aber nicht alle mitnehmen können, die Flüchtlingskinder, ihre Mütter, und der Omas hat sie jetzt schon zwei im Haus. Vira ist auch da, 69, aber sie sieht so viel älter aus. Ein altes Mütterchen aus Odessa, das gehetzt und atemlos vom Krieg erzählt, „tamtam tamtam“ das sind die Bomben.
Als sie ankam in Bukarest war sie aufgeregt, verschüchtert, Babuschka Vira war noch nie außerhalb der Ukraine gewesen. „Noch nie im Ausland, wir kannten doch auch niemanden.“ Ihre Familie fand, sie müsse gehen, zusammen mit einem ihrer Enkel, der 17 ist und sonst vielleicht bald Soldat wäre. Atium möchte eigentlich auch nach Hause in die Ukraine, seinen Freunden helfen, die Essen in umkämpfte Städte bringen. Aber er hört, sie haben Angst zu sterben, sie haben schon welche verloren. Atium sagt: „Wir wollen nicht die nächsten sein.“ Nun wartet er, dass der Krieg vorbei ist. „Wir müssen doch alles wieder aufbauen.“ Man weiß bei den beiden nicht recht, wer hier auf wen aufpasst.
Dass sie zusammen flohen, geschah im Schock. Viras Sohn, Atiums Vater, hat so entschieden. Der Junge hat verstanden: „Wir sind hier richtig“, er hat Rumänisch gelernt, sich an die neue Situation „gewöhnt“ – und an das Zimmer in der Casa Iuda, das er mit Oma teilt. Nebenan schlafen die rumänischen Jugendlichen, viele in seinem Alter. Vira aber fragt sich jeden Tag: „Wie konnte ich alles zurücklassen, die Hühner, die Hunde, die Katzen...“ In Bukarest, glaubt sie, werde sie nicht gebraucht. Wenn ihr in Odessa „eine Bombe auf den Kopf fallen würde, auch egal“.
Die Jugendlichen proben Weihnachtslieder aus der Heimat
Die 69 hat „gelitten und geweint“, die Schüsse, die Angriffe verfolgen sie in den Schlaf. Die kleine Oma fällt noch mehr in sich zusammen. Statt zu schlafen, betet sie. „Ich mache mir viele Sorgen“, inzwischen aber weiß sie: „Es ist viel besser hier, es gibt keine Sirenen.“ Viele andere Flüchtlinge sind längst gegangen, sie haben Wohnungen gefunden, manchmal kommen noch neue. Vira und Ludmilla sind noch da, sie gehören jetzt zum Haus.
Die Jugendlichen, die hier mit ihnen wohnen, kommen aus armen Familien allesamt, sie suchen selbst einen Weg in ein neues Leben. Aber jetzt haben sie gesammelt. „Fundraising“ ist ein großes Wort für ein paar rumänische Lei, aber neben den ukrainischen Weihnachtsliedern sollen die beiden Babuschkas auch ein Geschenk bekommen. Ein großes Paket soll es werden, mit je einer Hose darin, einer Bluse, Socken – und einem Hut! Denn ihren alten hatte Ludmilla damals mitgenommen auf die weite Reise. „Und mit ihrem Hut ist sie eitel“, sagt Stefania.
Aber psssst! Die jungen Leute planen das leise und auf Rumänisch – die Babuschkas sollen es noch nicht wissen.
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