Brasilien/São Paulo: Den Kreislauf der Gewalt durchbrechen
Text: Katharina Nickoleit, Fotos: Christian Nusch
Wer als Kind von seinen Eltern geschlagen wurde, wird oft auch bei seinen eigenen Kindern gewalttätig. In São Paulo im Südosten Brasiliens schafft es ein Kindernothilfepartner, diesen Kreislauf zu durchbrechen.
„Wie schön, dich zu sehen! Wie geht es dir?“ Die Begrüßung zwischen den Mitarbeitenden der Organisation Casa de Assistencia Filadelfia (CAF) und Keliane könnte nicht herzlicher sein. Die junge Frau war lange einer ihrer Schützlinge. „Ich war zwölf, als ich das erste Mal in das CAF-Zentrum kam. Meine Mutter schlug mich regelmäßig und schrie mich immer nur an. Hier habe ich eine Zuflucht gefunden.“ Die 27-Jährige unterbricht sich, denkt kurz nach und meint: „Nein, eigentlich eher eine zweite Familie.“
Das Kinderschutzzentrum von CAF liegt in Ermelino Matarazzo, einem der ärmsten Bezirke von São Paulo. Gewalt gehört hier zum Alltag der Menschen dazu – auch und gerade in den Familien. „Die brasilianische Gesellschaft ist von Rassismus und Diskriminierung geprägt. Diese strukturelle Gewalt erzeugt viel Frust, der sich in Gewalt gegen die Schwächsten entlädt“, erklärt Ellen Cristina Vicente Garôz, eine der beiden Sozialarbeiterinnen von CAF, die Ursachen. „Es ist eine Kultur der Gewalt gegen Frauen, die ihre Erfahrungen an ihre Kinder weitergeben.“ Diesen Kreislauf zu beenden, ist das Ziel von CAF.
Kein Kind muss Gewalt hinnehmen
In der Textilwerkstatt sitzen vier junge Mädchen und nähen waschbare Damenbinden. Die können sie nicht nur für sich selbst gut brauchen, sondern sie lernen gleichzeitig etwas, womit sich ein kleines Einkommen erzielen lässt. Während sie ihre Stoffe zuschneiden, erzählen sie von ihrem Alltag. „Der Vater meiner Geschwister hat meine Mutter misshandelt. Ich habe dann immer die Kleinen in Sicherheit gebracht, weil sie so große Angst hatten“, erzählt die 15-jährige Lilica. „Dann habe ich meiner Mutter geraten, sich bei CAF Hilfe zu suchen.“ Mit deren Unterstützung gelang es der Mutter, sich aus der gewalttätigen Beziehung zu lösen.
„Es ist wichtig, sich gegenseitig zu beschützen, das machen wir als Freundinnen auch untereinander, wenn zum Beispiel die Jungen die Mädchen in der Schule schlagen“, ergänzt die 13-jährige Eliene. „Damit wir uns gegenseitig helfen können, ist es nötig, dass wir überhaupt erst einmal über die Gewalt sprechen. Ich dachte immer, das sei ganz normal und gehöre nun mal zum Leben dazu und ich sei halt einfach zu weich, weil es mich belastet“, meint Lilica. „Hier habe ich gelernt, das nicht in mich hineinzufressen, sondern offen darüber zu reden.“
Manche Kinder verschanzen sich in der Toilette, um anzurufen
Während sie den Mädchen zuhört, lächelt Ellen in sich hinein. Sie ist nicht nur eine gute Zuhörerin, sondern bietet auch konkrete Hilfe an. Jedes Kind, das zu CAF kommt, erhält als Erstes die Telefonnummer des offiziellen Kindernotrufs. Doch weil sich viele Mädchen und Jungen scheuen, im Notfall eine ihnen unbekannte Person anzurufen, gibt Ellen auch immer ihre private Nummer heraus. „Die Kinder rufen abends und am Wochenende an, wenn das Schutzzentrum geschlossen hat“, erklärt sie ihre sieben Tage rund um die Uhr dauernde Rufbereitschaft. „Manche haben sich in ihrer Angst auf der Toilette verschanzt. Im Hintergrund höre ich die Erwachsenen an die Tür schlagen und schreien.“ Ellen versucht dann, die Situation zu entschärfen. Die Mutter anzurufen und zu beruhigen. Schaut, wer von den ehrenamtlich Mitarbeitenden Zeit hat, hinzufahren, oder sie fährt selbst. Und ruft im Zweifel, wenn die Lage nicht unter Kontrolle zu bringen ist, auch die Polizei. „Bislang musste ich Ellen noch nicht anrufen, aber ich bin sehr froh zu wissen, dass ich es im Notfall tun kann“, meint Cristiane. „Ich vertraue ihr und weiß, dass sie mir jederzeit helfen wird. Das gibt mir Sicherheit.“
CAF arbeitet nicht nur mit Kindern, sondern auch mit den Eltern. Washington Oliveira Lemão betreut 40 Mütter. Die meisten von ihnen sind alleinerziehend, oft, nachdem sie von ihren gewalttätigen Partnern verlassen wurden. „Die Mütter haben häufig eine sehr schlechte Bindung zu ihren Kindern. Sie wurden von deren Vätern sehr schlecht behandelt und projizieren alle negativen Gefühle für den Expartner auf dessen Kinder“, erläutert der Sozialarbeiter den Zusammenhang. Unfähig, sie zu lieben, vernachlässigen die Mütter ihre Söhne und Töchter schwer. „Den Mädchen und Jungen fehlt es manchmal an allem. An ausreichender Ernährung, grundlegender Hygiene. Die Mütter kümmern sich nicht um Impfungen, um Vorsorgeuntersuchungen und bringen sie nicht zum Arzt, wenn sie krank sind. Und natürlich fehlt es an Liebe und Zuwendung.“ Washington kümmert sich um das Überlebensnotwendige, aber das kann immer nur eine momentane Nothilfe sein. Langfristig hilft nur, die Mutter-Kind-Beziehung zu stärken.
Mit ihren Kindern zu spielen, ist für viele Mütter eine neue Erfahrung
„Die Mütter müssen ihre Kinder als eigenständige Personen und nicht nur als Nachkommen ihres gewalttätigen Ex wahrnehmen. Um zu ihren Töchtern und Söhnen eine gute Beziehung aufbauen zu können, ermutigen wir sie, überhaupt erst einmal Zeit miteinander zu verbringen.“ Weil viele Mütter das selbst als Kind nicht erlebt haben, wissen sie oft gar nicht, wie das geht. Ihren Kindern Bücher vorzulesen oder gemeinsam mit ihnen zu spielen, ist für viele eine neue Erfahrung. „Ich hätte nicht gedacht, dass mir das so viel Freude machen würde“, meint Felicidade, die mit ihren beiden Söhnen ins Kinderschutzzentrum kommt. Um die erlernten gewalttätigen Verhaltensmuster nicht zu wiederholen, müssen die Frauen auch ihre eigenen Gewalterfahrungen verarbeiten und reflektieren. Dazu bietet Washington psychologische Sitzungen an. „Ich habe dabei viel über mich selbst und meine eigene Kindheit gelernt“, gibt Felicidade zu. „Darüber, was alles schiefgelaufen ist und sich nicht wiederholen soll.“
Im nächsten Schritt holt Washington die älteren Kinder zu den Sitzungen dazu. Sie sollen hören, was ihre Mütter erlebt haben, um sie besser verstehen zu können. Sagen, was sie darüber denken, und erzählen, wie sie sich fühlen, wenn die Mutter die Kontrolle verliert. Für Felicidade war das ein Aha-Moment: „Seit ich das von meinem Sohn gehört habe, fällt es mir leichter, mich unter Kontrolle zu halten. Ich habe jetzt verstanden, wie schlimm es für Daví ist, wenn ich meinen Frust an ihm ablasse.“
Auch abseits der Sitzungen sind die Mütter eingeladen, ins Kinderschutzzentrum zu kommen. Elienas Mutter Jana begleitet ihre Tochter einmal pro Woche zum Nähworkshop. „Es ist eine gemeinsame Unternehmung, und es macht mir Spaß, Zeit mit ihr zu verbringen“ meint sie. „Und ich treffe hier andere Mütter, mit denen ich mich darüber austauschen kann, wie man mehr Geduld haben kann und besser mit seinen Kindern umgeht. Seither läuft es in der Familie besser, wir haben mehr Verständnis füreinander und hören einander besser zu.“ Ihre 13-jährige Tochter nickt zustimmend.
„Wir machen das aus Liebe, nicht wegen des Geldes“
Der beste Beweis dafür, dass es CAF gelingt, die Eltern zu erreichen, sind die Notrufe, die auch bei Washington eingehen. Besonders während der Pandemie stand sein Telefon nicht still. „Die Mütter riefen mich an und sagten, sie wüssten nicht mehr weiter, alles sei zu viel, sie hätten sich bald nicht mehr unter Kontrolle. Statt ihren Frust an den Kindern auszulassen, meldeten sie sich und baten um Hilfe. Das war ein wunderbarer Vertrauensbeweis.“
Auf die Frage, ob ihre ständige Rufbereitschaft bezahlt wird, müssen Ellen und Washington schallend lachen. „Wir machen das aus Liebe, nicht wegen des Geldes“, sagt Ellen und muss wegen dieser absurden Frage immer noch kichern.