Moldau: Tudora – ein kleines Dorf wird zum Zufluchtsort
Text: Katharina Wagner, CONCORDIA Sozialprojekte, Fotos: Benjamin Kaufmann für CONCORDIA Sozialprojekte
In der Republik Moldau war die Kindernothilfe bisher nicht vertreten. Doch nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine und angesichts der Not der Geflüchteten, die in dem ohnehin schon armen Nachbarland Hilfe suchten, wurden auch wir aktiv. In der Organisation CONCORDIA haben wir einen starken Partner gefunden, der seit Jahren vor Ort arbeitet. Pressesprecherin Katharina Wagner vom österreichischen Zweig der Organisation besuchte Anfang April ein Projekt in Tudora, das wir unterstützen.
Von Tudora aus kann man durch die sanfte Erhöhung in der Landschaft in Richtung Odessa blicken und das Schwarze Meer sehen. Die Heimat scheint so nah, die Väter, Brüder, erwachsenen Söhne, die sie zurückgelassen haben. Und doch sind sie für die Frauen und Kinder, die aus der Ukraine hierher geflüchtet sind, grausam unerreichbar.
Große Gastfreundschaft eines kleinen Landes
Seit Beginn des Krieges fliehen Tausende Menschen über den kleinen Grenzübergang in Palanca nach Moldau, einem der ärmsten Länder Europas. Tudora, ein Dorf keine zehn Kilometer von hier entfernt, wird zum ersten Hoffnungsschimmer für sie. Im CONCORDIA-Zentrum nehmen Mitarbeitende aus Moldau und viele Freiwillige aus der Bevölkerung sie in Empfang. Nach oft stundenlangem Warten kommen sie völlig unterkühlt und erschöpft hier an und werden erst einmal mit heißem Tee und einer warmen Mahlzeit versorgt. Die Helferinnen und Helfer vermitteln Unterkünfte für diejenigen, die bleiben wollen, sie organisieren Fahrten in die Hauptstadt Chișinău oder wohin auch immer für die anderen, die wegwollen. Sie setzen sich auch selbst ins Auto und bringen die traumatisierten Menschen zur nächsten Station ihrer Flucht.
Mittlerweile sind fast 440.000 Menschen (Stand 26. April) in Moldau angekommen. Etwa ein Viertel von ihnen ist hiergeblieben, denn sie sagen: „Wir wollen nicht weiter weggehen aus der Grenzregion, wir wollen wieder zurück, sobald alles vorbei ist!“ Odessa, Mariupul, Mykolajiw, so heißen ihre Heimatstädte, und dort wollen sie auch wieder hin.
Das Multifunktionszentrum in Tudora
Dreh- und Angelpunkt der Flüchtlingshilfe im Dorf ist meine Kollegin Veronika Mocan, die Leiterin unseres Zentrums in Tudora. Gut vernetzt und im ganzen Ort bekannt war sie schon vor Kriegsausbruch, doch nun ruft ständig jemand an, der Hilfe braucht. Vor allem in den ersten Wochen, in denen so viele Geflüchtete kamen, war sie diejenige, die die Arbeit bestmöglich koordiniert hat. „Ich konnte viele ukrainische Familien bei 28 Gastfamilien unterbringen“, sagt sie. „Die Hilfsbereitschaft ist groß für so ein kleines Dorf. Die Gastfamilien sowie diejenigen, die sie aufgenommen haben, bekommen Unterstützung aus unserem Zentrum. Vier Mütter mit ihren Kindern leben im CONCORDIA-Haus für Geflüchtete. Unsere Mitarbeitende besuchen sie und die Familien regelmäßig und bringen Lebensmittel, Hygieneartikel und was sie sonst noch brauchen vorbei.“
Viele Dörfer in Moldau geben – wie Tudora – ein trauriges Bild ab. Die meisten Häuser stehen leer, viele aus der arbeitenden Generation sind aus Armut und Mangel an Perspektiven weggezogen. Rund ein Drittel der Moldauerinnen und Moldauer arbeitet im Ausland. Zurück bleiben die Alten in bescheidenen Behausungen, manchmal werden auch die Enkelkinder bei ihnen gelassen. Viele sind mit steigendem Alter überfordert, sich um die Kleinen zu kümmern. Finanziell fehlt es oft an den einfachsten Dingen, zum Beispiel an Holz zum Heizen. Als größte Hilfsorganisation im Land betreibt CONCORDIA-Zentren in mehr als 50 Gemeinden in ganz Moldawien. Und wie in Tudora sind sie oft der soziale Treffpunkt in einem Dorf. Das Projekt in Tudora gibt es seit 2008. Es ist Sozial- und Lernzentrum für die Kinder und zugleich Altenpflegezentrum – und vereinigt damit Alt und Jung unter einem Dach, ist also quasi ein Multifunktionszentrum.
14 Seniorinnen und Senioren leben zurzeit hier. Nachmittags kommen Kinder aus armen Familien hierher, sie bringen Leben ins Zentrum, worüber sich alle freuen. Sie erhalten ein warmes Essen und können hier lernen. Darüber hinaus liefern Mitarbeitende des Zentrums das tägliche Mittagessen, oft die einzige richtige Mahlzeit, an ältere Menschen und Familien, die nicht mobil und auf Hilfe angewiesen sind. Das ist die Arbeit des Zentrums an normalen Tagen. Jetzt kommt noch die Hilfe für die Menschen aus der Ukraine hinzu.
„Onkel“ Fedor hat seine Lebensfreude wiedergefunden
Als ich diese Woche mehrere Stunden im Zentrum in Tudora war, lernte ich Yana und Fedor kennen. Yana (5) ist mit ihrer Mutter und beiden Geschwistern aus Odessa geflohen. Sie liebt es, zu tanzen und sich zu bewegen. Die Familie lebt im CONCORDIA-Haus für Geflüchtete, neben drei weiteren ukrainischen Frauen und ihren Kindern. Das Haus ist zehn Gehminuten vom Multifunktionszentrum entfernt. Mütter und Kinder sind dort herzlich willkommen und verbringen gerne und viel Zeit dort. Zwischen einem älteren Bewohner, „Onkel“ Fedor“, und Yana hat sich eine ganz besondere Freundschaft entwickelt. Yana kurvt mit dem im Rollstuhl sitzenden Senioren durchs Haus, und zwischendurch malt sie ihm jeden Tag mindestens drei Bilder. Wie die meisten Menschen in dieser Region spricht auch Fedor russisch, weshalb sich die beiden verständigen können. „Ich bin froh, dass hier so viele Kinder sind“, sagt er. „Durch sie habe ich meine Lebensfreude wiedergefunden.“ Seine Kinder und Enkel wohnen alle im Ausland, und er ist allein hier in Tudora. Fedor spielt und lacht gerne mit Kindern. Er ist ein lebensfroher Mensch, wenn Mädchen und Jungen um ihn herum sind.
Der Ausnahmezustand ist der Routine gewichen
„In den vergangenen Wochen waren wir in einer Art Ausnahmezustand“, berichten meine Kolleginnen und Kollegen vor Ort, „aber mittlerweile kehrt mehr Routine ein. Die Überlastung durch die neue Situation hat viel Kraft gekostet, inzwischen läuft alles seinen Gang und wir haben Zeit, Pläne für die mittelfristige Zukunft aufzustellen. Aber die Telefone laufen nach wie vor heiß …“ Unsere Leiterinnen für Moldawien, Tatiana Balta und Viorica Matas, erhalten laufend Anfragen von anderen internationalen Organisationen mit Erfahrung in Katastropheneinsätzen, denn viele der Organisationen waren noch nie in Moldau aktiv, deshalb fehlen ihnen die Infrastruktur und die Ansprechpersonen.
Ebenso wie unsere Mitarbeitenden bereiten sich auch andere Hilfswerke auf einen möglichen zweiten großen Ansturm an der Grenze vor. Sobald Odessa und umliegende Regionen angegriffen werden, werden wieder Tausende versuchen, über den kleinen Grenzübergang in Palanca zu gelangen. Auch ihnen muss schnellstmöglich geholfen werden.
In Moldau war die Angst, dass der Krieg ins eigene Land überschwappt, anfangs sehr groß. Die Sirenen liefen heiß, und es gab keine Nacht, in der man zur Ruhe kommen konnte. Wie soll man diese Situation jungen Menschen kindgerecht erklären – sowohl den einheimischen wie auch den geflüchteten Mädchen und Jungen aus der Ukraine? Wie viel von der Wahrheit darf man ihnen überhaupt vermitteln? Wir haben mittlerweile mit Geldern der Kindernothilfe einen Workshop zur Arbeit mit traumatisierten Kindern durchgeführt, viele weitere Schulungen für Mütter, Kinder und unsere Mitarbeitenden vor Ort sind geplant. Dabei soll es um Traumata, Kinderhandel und Kinderschutz gehen. CONCORDIA ist gerade dabei, eine eigene Abteilung mit psychologischem Fachpersonal aufzubauen. Die Expertise der Kindernothilfe auf diesem Gebiet wird uns sicherlich ein großes Stück weiterhelfen.