Philippinen: Die Unsichtbaren
Text: Christiane Dase, Fotos: Jakob Studnar
Kinder mit körperlichen oder geistigen Behinderungen wachsen auf den Philippinen unter schwierigsten Bedingungen auf. Viele bekommen kaum medizinische Hilfe, können keine Schule besuchen und werden ausgegrenzt. Der Kindernothilfe-Partner Simon of Cyrene arbeitet mit den lokalen Behörden daran, fehlendes Wissen und Vorurteile abzubauen, Kinder mit Sprach- oder Physiotherapien künftig besser zu unterstützen und Hilfsangebote für ärmste Familien zugänglich zu machen.
Samuels Mutter kann die Tränen nicht zurückhalten, als sie ihren Sohn zur Begrüßung in die Arme schließt. Die Emotionen aus dem starren Blick des Jungen abzulesen, fällt schwer. Er wirkt zerbrechlich. Doch die Freude seiner Brüder ist nicht zu übersehen. Die zwei stürmen auf Samuel zu, um ihren großen Bruder dann vorsichtig zu drücken – endlich! Es ist ein seltener Besuch. Der neunjährige Samuel lebt in einem kleinen, abgelegenen Dorf bei seiner Großmutter, eine Fahrtstunde von Virac, der Hauptstadt der philippinischen Insel Catanduanes, und von seiner Familie entfernt. Seine ganze Welt ist diese karge Hütte. Außer einer Holzbank, einem Tisch und Samuel in seinem sperrigen Rollstuhl steht nichts in dem winzigen Wohnraum. Statt eines Bettes liegen im Nebenraum zwei Strohmatten auf dem Betonboden. „Es bricht mir das Herz, dass er nicht bei uns ist, aber ich kann mich nicht so um meinen Ältesten kümmern, wie er es braucht“, sagt Jean Buendia-Tenoria. „Ich muss arbeiten, um unsere Familie irgendwie durchzubringen.“
Samuel braucht rund um die Uhr Hilfe
Samuel kam mit zerebraler Kinderlähmung zur Welt, sein Gehirn wurde während der Geburt nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt. Der Neunjährige ist ein Pflegefall. Er kann nicht laufen, nicht sprechen, nicht eigenständig essen. Seine Muskeln in Armen und Beinen sind verkümmert. „Er kann sich kaum bewegen, nicht greifen und seinen Kopf nur mit Mühe halten“, fasst seine Mutter Samuels Realität zusammen. Ihr Sohn ist bei allem auf Hilfe angewiesen – rund um die Uhr. Ihre Schwiegermutter füttert ihn, wäscht ihn, nimmt ihn in den Arm. „Dieser Junge ist mein Glück“, sagt die 66-Jährige. Voller Liebe. Sie sieht viel älter und müde dabei aus. „Ich habe Angst vor dem Tag, an dem ich mich nicht mehr um Samuel kümmern kann.“ Denn ihre Schwiegertochter, die als Lehrerin an einer Schule in der Inselhauptstadt arbeitet, kann das nicht leisten. „Ich habe versucht, einen Job bei der lokalen Regierung zu bekommen, in dem ich mehr Geld verdienen kann. Doch dort hat man mich eine Bettlerin genannt, weil ich um Hilfe frage. Sie haben gesagt, dass ich mich lieber um mein behindertes Kind kümmern soll“, erzählt die 37-Jährige.
Nur wie, wenn es am Nötigsten fehlt? Mit dem Gehalt, das sie als Lehrerin verdient, könne sie gerade einmal das Essen für ihre Familie bezahlen. Für die Medikamente, die Samuel so dringend zur Behandlung seiner Krampfanfälle braucht, bleibt am Ende des Monats oft nichts übrig, sagt sie. Geschweige denn für eine Therapie. Wochenlang können sie den schwerkranken Jungen nicht besuchen, weil das Geld für die Fahrt zur Großmutter meist nicht reicht. 500 Pesos, umgerechnet etwa acht Euro, kostet eine Strecke. Zu viel für die Familie, denn seit der Pandemie ist das Leben auch auf Catanduanes teurer geworden. „Nach der Arbeit verkaufe ich Snacks in einem kleinen Kiosk. Ich greife nach jeder Chance, die ich bekomme, um unser Leben zu bezahlen.“
Auf den Philippinen leben Kinder mit Behinderungen am Rande der Gesellschaft
Seit einigen Monaten ist Jean Buendia-Tenoria alleinerziehend. Ihr Mann hat in Kuweit einen Job als Obstverkäufer angenommen, in der Hoffnung, dort mehr Geld zu verdienen als in der Heimat. „Oft fehlt mir jemand, mit dem ich über meine Ängste reden kann. Doch wir haben keine andere Wahl“, sagt die 37-Jährige. Denn durch vergangene Behandlungen ihres schwerkranken Kindes hat sich die Familie verschuldet. Für die Gesundheit ihres Sohnes nahmen sie nicht nur hohe Behandlungskosten, sondern auch den weiten Weg mit der Fähre auf die Nachbarinsel Luzon in Kauf. Denn auf Catanduanes gibt es bislang kaum medizinische und therapeutische Hilfe für Kinder mit einer schweren Behinderung. Samuels Mutter bereitet das ständige Zukunftssorgen. „Mein größter Wunsch ist es, dass meine Jüngsten die Schule beenden, damit sie sich später um ihren Bruder kümmern können, wenn mein Mann und ich nicht mehr da sind.“ Auch Samuels jüngere Brüder sind beide durch einen Sehfehler beeinträchtigt. „Mein Siebenjähriger hat seine dreidimensionale Sicht bereits völlig verloren. Ohne Brille kann er nicht lesen, Distanzen sind schwierig für ihn. Er schafft es nicht, etwas auf eine Wäscheleine zu hängen“, sagt Jean Buendia-Tenoria.
Das Projekt von Simon of Cyrene ist ein Hoffnungsschimmer für die Familie. Erst vor zwei Jahren hat Samuel mit Hilfe des Partners endlich einen Rollstuhl bekommen. „Vorher hat der Junge die meiste Zeit nur auf dem Boden gelegen.“ Jean Buendia-Tenoria ist dankbar für jede Erleichterung, jeden Funken Hoffnung in Samuels Leben. „Ich habe damals vor Glück geweint. Die Unterstützung, die wir hier bekommen, ist ein Segen!“
Diskriminiert, stigmatisiert und ausgegrenzt
Kiran will endlich laufen und sprechen
Kiran ist eines dieser Kinder. Zu früh, zu klein und schwach kam er zur Welt. Der Dreijährige braucht für vieles länger als andere Mädchen und Jungen seines Alters. Der Arzt vermutete zunächst nur eine Entwicklungsverzögerung. „Doch als Kiran mit zwei Jahren noch immer nicht laufen konnte, glaubte ich nicht mehr daran“, sagt seine Mutter Mary Joy Pitajen. Bis heute weiß sie nicht, was ihrem Kind fehlt. Denn: „Eine richtige Diagnose gab es nie.“
Wie die meisten Menschen auf Catanduanes, lebt auch Kirans vierköpfige Familie in bitterer Armut: in einer einfachen Hütte, ohne Zugang zu sauberem Wasser. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, viele Familien haben nicht genug zu essen. Zahlreiche Kinder sind mangelernährt – auch Kiran wiegt zu wenig für einen Dreijährigen. Die Folgen können dramatisch sein: körperliche und geistige Behinderungen, die Kindersterblichkeitsrate auf der Insel ist hoch. Daher versorgt das Projekt derzeit mehr als 50 betroffene Mädchen und Jungen wie Kiran durch Zusatznahrung, berät Eltern außerdem zu Ernährung und zum Anbau eigener Lebensmittel. 13 haben durch die Hilfe des Projekts inzwischen ihr Normalgewicht erreicht. Doch medizinische Hilfe für Kinder mit Behinderungen gibt es hier kaum, da Fachpersonal in den ländlichen Regionen fehlt. Die Fahrt zum Krankenhaus der Inselhauptstadt können sich viele Familie nicht leisten. So wie Kirans. „Ich wünsche mir, dass mein Sohn von einem Spezialisten untersucht und mit einer passenden Therapie gefördert wird, damit er später zur Schule gehen kann“, sagt Mary Joy Pitajen.
Joyce lässt sich vom Down-Syndrom nicht mehr ausbremsen
Joyce hat in ihrer Kindheit schon vieles erreicht, was ihre Eltern nie für möglich gehalten hätten. Als sie mit zehn Jahren ins Projekt von Simon of Cyrene kam, konnte das Mädchen nicht sprechen, erinnert sich Mary Joy Llandelar. Heute redet die 14-Jährige wie ein Wasserfall. „Sie ist in der Schule total aktiv, macht mit Spaß im Unterricht mit und kann inzwischen auch ihren Namen schreiben“, erzählt ihre Lehrerin Francia Alberto. Auch wenn Joyce in ihrer geistigen Entwicklung eher auf dem Stand einer Siebenjährigen ist – die Diagnose Down-Syndrom kann das Mädchen heute nicht mehr aufhalten.
Joyces Mitschüler an der Grundschule in Caramoran haben alle besonderen Förderbedarf. Die fünf Mädchen und fünf Jungen haben wie Joyce das Down-Syndrom, Autismus, eine Lernbehinderung oder sind beim Hören eingeschränkt. „Die jüngste in meiner Klasse ist sieben, die älteste Schülerin 24 Jahre alt“, sagt Francia Alberto. In der kleinen Gruppe kann die Lehrerin einfühlsam und mit Geduld auf die sehr unterschiedlichen Bedürfnisse ihrer Schülerinnen und Schüler eingehen. Nicht alle sind so extrovertiert wie Joyce, manche eher still und in sich gekehrt. „Dreimal die Woche gibt es für jede und jeden Einzelunterricht, um sie so besser fördern zu können“, erklärt Francia Alberto. In der Schule lernen sie nicht nur Rechnen, Schreiben und Lesen, sondern vor allem auch Selbstständigkeit. „Joyce hat in kurzer Zeit so viel gelernt, ist aufgeweckt und interessiert. Ich mache mir keine Sorgen um ihre Zukunft“, betont ihre Lehrerin.
Auch wenn Joyce ein Teenie ist, bislang hat sie kein Interesse an Jungs. Ihre Leidenschaften sind Singen und Tanzen. Zu Hause angekommen, wirft die 14-Jährige den Rucksack in die Ecke und drängt ihre Mutter, Musik anzumachen. Die alte Stereoanlage stottert ihren Lieblingssong und Joyce legt eine Tanzeinlage im Wohnzimmer hin. Ihr Lachen ist ansteckend. „Sie ist der Grund, warum wir glücklich sind“, sagt Marelyn delos Reyes. „Joyce ist unsere Glückspille!“