Indien: Sechs Monate, die den Unterschied machen
Text: Katharina Nickoleit, freie Journalistin, Fotos: Christian Nusch
Eltern von Kindern mit Behinderungen mitbekommen in Indien kaum Unterstützung. Ein Projekt der Kindernothilfe hilft ihnen, sich selber besser um ihre Kinder kümmern zu können.
Juhi sagt nichts, als Pushpa Singh in das dunkle, kleine Zimmer eintritt, in dem sie zusammen mit ihren Eltern und zwei Geschwistern lebt. Sie gibt nicht einmal durch einen Blick zu erkennen, dass sie die junge Frau wahrgenommen hat. Teilnahmslos sitzt die Zwölfjährige nach Schutz suchend eng an ihre Mutter Shakina gedrängt, die ihr Leid klagt. „Sowie ich nicht bei ihr bin, gerät Juhi in Panik. Sie ist vollständig auf mich angewiesen. Noch kann ich mich um sie kümmern, aber was wird mit ihr, wenn ich sterbe? Wie soll sie ihren Lebensunterhalt verdienen? Wer wird meine Tochter heiraten?“
„Eine behindertes Kind zu haben ist immer ein Fluch“, meint Pushpa. „Aber wenn man Geld hat, kann man Therapeuten bezahlen, Hilfsmittel kaufen und sein Kind so gut wie möglich unterstützen und fördern. Wenn man jedoch arm ist, muss man einfach irgendwie alleine klarkommen. Zumindest in Indien.“ Dank der Spender der Kindernothilfe erhalten zumindest einige der Kinder mit Behinderungen in Patnas Elendsvierteln für einen begrenzten Zeitraum Hilfe. Ein halbes Jahr lang kann Pushpa mit Juhi arbeiten, das ist vermutlich alles, was das Mädchen in seinem Leben an professioneller Therapie bekommen wird. Shakina könnte es sich niemals leisten, einen Therapeuten zu bezahlen, und sie hat keine Krankenkasse, die die Kosten übernehmen würde. Auch das Projekt hat nicht die Mittel, um sich dauerhaft um die Therapie zu kümmern. Diese sechs Monate müssen so gut wie möglich genutzt werden. Deshalb arbeitet Pushpa nicht nur mit Juhi, sondern vor allem auch mit deren Mutter. „Ich bringe Shakina bei, wie sie Ihre Tochter ansprechen muss, damit sie aus sich herauskommt. Welche Übungen sie mit ihr machen und wie sie sie ermutigen und belohnen kann“, erklärt die Therapeutin. So wird die Mutter in Zukunft in der Lage sein, ihre Tochter selbst zu fördern.
Die Stunde ist zu Ende, Pushpa verabschiedet sich, setzt sich auf ihren Motorroller und fährt zu ihrem nächsten Patienten. Sie klopft an die Tür, hinter der der siebenjährigen Raj mit seinen Eltern und vier Geschwistern in einem mit Habseligkeiten vollgestopften, dunklen Raum lebt. Wie Juhi ist er von Geburt an behindert, auch er spricht nicht, kann nicht alleine essen und nicht zur Toilette gehen. Aber seit einer Woche, schon kurz nachdem Pushpa angefangen hat, seine Sehnen mit Krankengymnastik und Massagen geschmeidig zu machen, kann er mit Unterstützung seiner Mutter Rishema einige Schritte machen. „Ich hätte das nie für möglich gehalten“, sagt sie. Sie strahlt über das ganze Gesicht, als Pushpa ihr sagt, sie sei zuversichtlich, dass ihr Sohn demnächst ganz ohne Hilfe laufen können werde. So kurz ein halbes Jahr Therapie erscheinen mag – es kann ein ganzes Leben verändern.