Kindernothilfe. Gemeinsam wirken.

Bangladesch: Bis 2050 13 Millionen Klimaflüchtlinge

Text: Hubert Wolf, Fotos: Lars Heidrich

(veröffentlicht in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung)

Der Klimawandel gefährdet die Küstenregionen von Bangladesch: Der Meeresspiegel steigt, Salzwasser verdirbt Grundwasser. Viele ziehen fort, um zu überleben.

An normalen Tagen ist die Chila Manumia High School in Mongla im Distrikt Bagerhat tatsächlich eine Schule. Mehr als 200 Mädchen und Jungen in strahlend blau-weißen Schuluniformen lernen hier, der Weg führt vorbei an der 6. Klasse, die gerade Mathematik hat. Dahinter wartet Rektor Maftun Ahmed, der in seinem großen Büro unter zwei hart arbeitenden Ventilatoren sitzt und erklärt, warum Schulen hier immer auch etwas anderes sind. Zyklon-Schutzräume.

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"Wer zu Hause bleibt, stirbt!"

Weil „die Zyklone stärker und mehr werden“, sind in den vergangenen Jahren 2 500 Bunker entlang der Küsten von Bangladesch entstanden – auch und gerade in Schulen, da sie eh halbwegs fest stehen. „Früher waren die Menschen hier sehr verwundbar, heute haben sie einen besseren Platz“, sagt Ahmed. Freilich fällt der Unterricht dann mehrere Tage aus, werden Klassenräume zu Notquartieren, und ob die Menschen danach da draußen ihre einfachen Häuser noch vorfinden, ist ausgesprochen ungewiss. Zyklon trifft auf Holz und Wellblech. Klimawandel steckt dahinter, dass Zyklone tendenziell häufiger und stärker werden. „Sidr“ 2007. „Aila“ 2009. „Amphan“ 2020. Und das waren nur die schlimmsten. „Mocha“ im Mai 2023: Im letzten Moment dreht er bei, geht mehr auf das Nachbarland Myanmar los. „Wer zu Hause bleibt, stirbt!“, sagt Shubhomoy Haque, der Landeskoordinator der Kindernothilfe.
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Shubhomoy Haque, Kindernothilfe-Landeskoordinator für Bangladesch (Quelle: Lars Heidrich)
Shubhomoy Haque, Landeskoordinator der Kindernothilfe für Bangladesch (Quelle: Lars Heidrich)
Shubhomoy Haque, Kindernothilfe-Landeskoordinator für Bangladesch (Quelle: Lars Heidrich)
Shubhomoy Haque, Landeskoordinator der Kindernothilfe für Bangladesch (Quelle: Lars Heidrich)

Das größte Problem ist versalzenes Grundwasser

Der Klimawandel nagt an dem Land Bangladesch in Hinterindien. Es erwartet 13 Millionen Binnen-Klimaflüchtlinge bis zum Jahr 2050. 230 Quadratkilometer Land sollen bereits fortgespült worden sein in den letzten Jahren. „Immer mehr Menschen, die ohnehin in Armut leben, werden binnen weniger Tage zu Klimaflüchtlingen und verlassen die Region fluchtartig“, heißt es bei der Kindernothilfe. An den Rändern der Großstädte entstehen Elendsviertel, und die Familien, die noch bleiben, kämpfen mit der fortschreitenden Versalzung von Äckern und Grundwasser. Das Salzwasser des anschwellenden Golfes von Bengalen steigt zusehends die Flüsse hoch, Zyklone verteilen es ins Landesinnere. Aus einer Landschaft der Reisbauern ist im Ganges-Delta eine Landschaft der Garnelenteiche geworden: Sie brauchen Salzwasser zur Aufzucht, Garnelen sind ein gutes Geschäft geworden - und zugleich bringen die Garnelenzüchter das Salzwasser immer weiter ins Land hinein. So viel Wasser - und so wenig zu trinken!
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Bangladesch: Eine Shrimpsfischerin watet durch eine überflutete Landschaft (Quelle: Lars Heidrich)
Eine Frau fischt nach Schrimps-Larven: Durch den Klimawandel wurden aus Reisfeldern Fisch- und Garnelen-Teiche, die das Salzwasser immer weiter ins Land bringen (Quelle: Lars Heidrich)
Bangladesch: Eine Shrimpsfischerin watet durch eine überflutete Landschaft (Quelle: Lars Heidrich)
Eine Frau fischt nach Schrimps-Larven: Durch den Klimawandel wurden aus Reisfeldern Fisch- und Garnelen-Teiche, die das Salzwasser immer weiter ins Land bringen (Quelle: Lars Heidrich)

Die Landwirtschaft wird stark eingeschränkt, die Menschen können das Grundwasser nicht mehr trinken. Ja, sie bevorraten sich in der Regenzeit, fangen Wasser auf mit allem, was leer ist. Aber die Trockenzeit von November bis Mai ist auch lang. Deshalb ist „das Eindringen von Salzwasser eines der größten Probleme von Bangladesch“, sagt ein Mädchen auf der „2. Küstenkinderkonferenz zum Klimawandel“ in Khulna. Geplant und umgesetzt von einer Organisation für Kinder, Umwelt und Entwicklung, die mit der Kindernothilfe zusammenarbeitet: Jagrata Juba Shangha. Denn „Mädchen und Jungen treffen die durch den Klimawandel verursachten Naturkatastrophen am härtesten“, heißt es bei ihr: „Zudem sind fast 40 Prozent der Bevölkerung unter 19 Jahre alt.“

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Eine Frau arbeitet in einem Gemüsegarten (Quelle: Lars Heidrich)
Die Frauen der Kindernothilfe-Selbsthilfegruppe Noton Kuri im Dorf Borobari lernen, wie sie auch mit leicht salzhaltigem Wasser Gemüse anbauen können (Quelle: Lars Heidrich)
Eine Frau arbeitet in einem Gemüsegarten (Quelle: Lars Heidrich)
Die Frauen der Kindernothilfe-Selbsthilfegruppe Noton Kuri im Dorf Borobari lernen, wie sie auch mit leicht salzhaltigem Wasser Gemüse anbauen können (Quelle: Lars Heidrich)

Siebenmal am Tag Wasser holen

„Trinkwasser ist ein großes Problem“, sagen auch Mutter und Tochter, die gerade das Dorf Keyabunia im Süden des Landes verlassen. Sie tragen mehrere leere Krüge mit sich. Sie werden zu einem Teich im Landesinnern gehen, die Krüge dort füllen und wieder nach Hause tragen. Die Strecke ist etwa zwei Kilometer lang. Sie gehen sie siebenmal am Tag.

Frauen wie diese sieht man in den Dörfern in Küstennähe überall. In strahlend roten, gelben oder orangefarbenen Saris, verschleiert oder auch nicht, mit Kopftuch oder ohne, tragen sie das kostbare Wasser zu ihren Familien.


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Mutter und Tochter mit Wasserkrügen (Quelle: Lars Heidrich)
Weil das Trinkwasser in Küstennähe inzwischen sehr salzhaltig ist, gehen Mädchen und Frauen viele Kilometer ins Landesinnere, um für die Familie Süßwasser zu holen (Quelle: Lars Heidrich)
Mutter und Tochter mit Wasserkrügen (Quelle: Lars Heidrich)
Weil das Trinkwasser in Küstennähe inzwischen sehr salzhaltig ist, gehen Mädchen und Frauen viele Kilometer ins Landesinnere, um für die Familie Süßwasser zu holen (Quelle: Lars Heidrich)

Unwetter zerstörten viermal das Haus

Ivy Lota Mistrys Eltern haben in den letzten vielleicht 15 Jahren, wer soll sich das jedes Mal merken, viermal ihr Holzhaus verloren, Stürme und Überschwemmungen nahmen jedes mit. Da waren sie es leid, zogen mit Ivy und dem kleinen Bruder etwas weiter ins Landesinnere und bauten mithilfe aller Verwandter ein neues Haus. Freilich sind sie noch immer der Küste so nah, dass sie das Grundwasser nicht mehr trinken können oder sollen. Und darum steht seit Kurzem der riesige, rosafarbene Tank einer Hilfsorganisation vor dem Haus, um möglichst Wasser zu fangen in der Regenzeit. „Klimaresilienz, Wassersicherheit und privater Anbau“ steht in englischer Sprache auf dem Tank.
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Ein Mädchen sitzt in einer Hütte (Quelle: Lars Heidrich)
Ivys Familie verlegte ihr Zuhause etwas weiter ins Landesinnere (Quelle: Lars Heidrich)
Ein Mädchen sitzt in einer Hütte (Quelle: Lars Heidrich)
Ivys Familie verlegte ihr Zuhause etwas weiter ins Landesinnere (Quelle: Lars Heidrich)

Flucht in die großen Städte

In der Millionenstadt Khulna wachsen die Ghettos, wie in anderen Großstädten von Bangladesch auch. So wie dieses, „Notun Bazar“ heißt es, 2 000 Familien leben hier, geschätzte 10 000 Menschen. Windschiefes Wellblech an giftig schillernden Teichen, die Katzen auffällig mager, Müll, Hütten, enge Gänge, Gedränge, Feuchtigkeit. Diese Hitze. 43 Grad. „Die Menschen verlassen die Küstenregion und ziehen in die Städte. Sie suchen Arbeit. Kinderarbeit wird auch wieder ein Thema hier“, sagt Shubhomoy Haque.
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Bangladesch: Frauen mit Töpfen und Schüsseln verkaufen Essen (Quelle: Lars Heidrich)
Im Ghetto "New Market" leben diese Frau und ihre Familie vom Verkauf von Mahlzeiten (Quelle: Lars Heidrich) 
Bangladesch: Frauen mit Töpfen und Schüsseln verkaufen Essen (Quelle: Lars Heidrich)
Im Ghetto "New Market" leben diese Frau und ihre Familie vom Verkauf von Mahlzeiten (Quelle: Lars Heidrich) 
Familie Kandar. Großeltern, Eltern, sechs Kinder und Enkel, weitere auf eine unklare Weise Verwandte, Schlafende und Gastfreundliche, Schweigende und Guckende, alles nebeneinander und zugleich, sie bewohnen zusammen zwei Räume ohne Fenster und ohne Toilette – die ist draußen, die teilen sie mit hundert Nachbarn. Der Sohn verdient auf dem nahen Fischmarkt, der Vater repariert an Fahrrädern und Rikschas. Schon vor Jahren sind sie nach Khulna gekommen, nachdem ein Sturm ihr Haus an der Küste zerstört hatte. Frühe Klimaflüchtlinge. Inzwischen kommen mehr und mehr, denen es ergangen ist wie ihnen.
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Ein Urwald als Umweltschützer

„Der Urwald ist der größte Umweltschützer von Bangladesch“, sagt Shubhomoy Haque von der Kindernothilfe. Die Organisation unterstützt in Bangladesch aktuell sechs Projekte mit 9 800 Mädchen und Jungen, um ihre Gefährdung durch die Klimakrise zu verringern und um ihnen eine Stimme und einen Platz in der Krisenbekämpfung zu geben: Diese Kinder, alle Kinder werden schließlich am längsten mit dem Klimawandel zu kämpfen haben. Sie sind die nächste Generation.

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Der Urwald heißt „Sundarbans“, „Schöner Wald“ in der Sprache Bengali; mit 10 000 Quadratmetern Fläche der größte Mangrovenwald der Welt. Er schützt die Küste und die Menschen allein durch seine Existenz, bremst das Wegspülen des Bodens, mindert das Ausmaß von Wirbelstürmen und Fluten. „Umso wichtiger ist der nachhaltige Schutz der Sundarbans und ihrer Bewohnerinnen und Bewohner“, sagt Haque. Deshalb ist jeder, der geht, ein Verlust für alle.

Später am Tag zieht ein anderthalbstündiger Sturm auf, so schwarz, so nass und blitzdurchtost, wie man es in Europa nicht erleben kann. Hunderte Menschen flüchten sich in eine breite Unterführung, die, Gott sei Dank, nicht tiefergelegt ist. Den ausgesprochen beeindruckten Ausländern sagt ein Mann danach, das seien doch nur „a few drops“ gewesen – „ein paar Tropfen“.


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WAZ Reporter Hubert Wolf
Hubert Wolf ist seit 1989 Reporter bei der WAZ und war mit der Kindernothilfe bereits in Brasilien, Malawi, Indien, Guatemala, Bangladesch und auf den Philippinen.
Hubert Wolf

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